Radionachrichten:
Zu wenig Mut. Zu viele Handtücher.

Warum unsere (Radio)Nachrichten oft nicht abbilden, was ist.
6 Thesen von Rita Vock.

Nichts muss bleiben wie es war. Alles darf anders und besser werden. Auch im Radio. Auch bei den Nachrichten. Doch gerade da ist Veränderung schwierig. Schließlich haben Radionachrichten eine lange Tradition. Und ihre Regeln auch. Bei der zweiten „Zukunftswerkstatt Radionachrichten“ der ARD.ZDFmedienakademie ab 23.10. beim SWR in Baden-Baden werden Macher genau deshalb wieder über diese Regeln reden. Mit dabei: DLF-Nachrichtenredakteurin Rita Vock. Eine Frau, die sagt:

“Wir Nachrichtenmacher vernachlässigen oder unterdrücken nicht mutwillig Nachrichten. Aber wir haben bestimmte redaktionelle Standards und manchmal auch Scheuklappen.“

Hier ihre sechs Thesen, warum das so ist und was wir dagegen tun können: 

1. Unsere Wahrnehmung hat blinde Flecken.

In der journalistischen Berichterstattung vernachlässigen wir systematisch bestimmte Nachrichten und Themen. Viel ist in letzter Zeit darüber geschrieben worden, dass die Medien zu wenig Positives, zu wenig Konstruktives berichten. Das stimmt, aber es beschreibt nur einen von mehreren blinden Flecken. Systematisch vernachlässigt wird auch das Dauerhafte, Langfristige. Ebenso das Komplizierte, Unübersichtliche und Zahlenlastige. Vernachlässigt werden auch gesellschaftliche Gruppen, die sich nicht erfolgreich als Lobby organisieren.

Die Kriterien, nach denen wir entscheiden, ob eine Nachricht wichtig ist, werden nur selten explizit verhandelt. Dies sollte sich ändern. Die berühmten Nachrichtenfaktoren (Neuigkeit, Überraschung, Nähe u.s.w.) haben viele Redakteure irgendwo im Hinterkopf. Sie sind aber keine Naturgesetze, sondern wir können und müssen darüber diskutieren: Nach welchen Kriterien entscheiden wir über Relevanz? Nachrichtenredaktionen haben zwar oft schlicht keine Zeit, ihre Entscheidungen zu reflektieren, denn nach der Sendung ist immer wieder kurz vor der Sendung. Es ist aber zu wichtig, um es einfach sein zu lassen: Immer wieder darüber zu sprechen, warum wir etwas wichtig finden und anderes nicht.

Quelle: DLFRita Vock: Nachrichtenredakteurin beim DLF in Köln. Im Vorstand der Initiative Nachrichtenaufklärung. Hat Journalistik und internationale Politik in Dortmund, Bordeaux, Paris und Mexiko-Stadt studiert. War tätig für ARD, WDR, SZ.  2004 erschien ihre Diplomarbeit: “Was ist wichtig? Über die Auswahl von Nachrichten im Journalismus”.

2. Wir sind nicht divers – wie sollten es unsere Nachrichten sein?

Viele von uns Journalisten sind Lehrerkinder. Manche sind auch Kinder von Journalisten, Anwälten oder Ingenieuren – auch sie gehören zur gehobenen, akademisch geprägten Mittelschicht. Dieses Milieu prägt nicht nur die Familien, sondern auch die Wahl von Nachbarn, Freunden und Bekannten. Nicht von ungefähr greifen Reporter in ihren Texten oft auf Taxifahrer oder Putzhilfen zurück, wenn sie “einfache Leute” zitieren wollen. Sie kennen oft keine anderen.

Das gesellschaftliche Milieu, dem eine Journalistin entstammt und in dem sie sich in ihrem Alltag bewegt, beeinflusst auch ihre Nachrichtenauswahl. Ein ganz natürlicher Vorgang: Was das eigene Leben berührt, erscheint uns wichtig. Das sagt uns etwas, damit können wir etwas anfangen. Alle Professionalität kann nicht verhindern, dass unsere privaten Erfahrungen und Prägungen eine Rolle spielen. Das ist auch nicht schlimm – man sollte es nur wissen. Medien müssen deshalb bei der Auswahl und in der Ausbildung von Journalisten für mehr Diversity sorgen – nicht nur in ethnischer, sondern auch in soziokultureller Hinsicht.

3. Wir brauchen mehr Mut zur Lücke bei Polit-PR.

Hochrangige Politiker und Verbandsvertreter können in manchen Situationen sagen, was sie wollen: Sie haben ihr Zitat in den Nachrichten sicher. Es ist, als hätten sie am frühen Morgen ihr Handtuch auf den Liegestuhl am Pool gelegt: Wenn in der dpa-Tagesvorschau angekündigt ist, dass Ministerin X um 11 Uhr das Projekt Y vorstellt, dann kann man die Radio-Meldung für die 12-Uhr-Sendung im Grunde schon vorschreiben. Das gleiche gilt einmal im Monat für den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit: Einen Satz in indirekter Rede (oder im O-Ton) braucht die Meldung, wie nichtssagend die Äußerungen auch ausfallen mögen.

Hier plädiere ich für mehr Mut zur Lücke. Reine Polit-PR, so hochrangig sie auch angesiedelt ist, sollten wir häufiger übergehen. Dadurch gewinnen wir Arbeits- und Sendezeit für andere, sonst vernachlässigte Themen.

4. Unabhängige Themenfindung braucht Ressourcen.

Wer immer weniger Zeit für seine Arbeit hat, verfällt von der Kür in die Pflicht. Es braucht wesentlich weniger Zeit, die Agenturmeldung oder die Pressemitteilung umzuschreiben, als ausländische Zeitungen, Blogs oder Statistiken auszuwerten. Das Fatale ist: In Redaktionen wird seit Jahren gekürzt oder die Arbeit verdichtet, in Pressestellen von Unternehmen und Verbänden aber nicht. In der Folge verschiebt sich das Kräfteverhältnis: Wer sich gute Pressearbeit leisten kann, dem fällt es zunehmend leicht, Meldungen auf den Markt zu bringen, die den eigenen Interessen dienen.

Machen wir uns nichts vor: Im schnellen Radio-Nachrichtengeschäft geht es höchst selten um investigative Recherche. Aber zehn Minuten mehr Zeit für eine Meldung können schon einen großen Unterschied machen. Zum Beispiel den Unterschied, ob der Redakteur es schafft, von der neuen Bildungsstudie etwas mehr (quer) zu lesen als nur die Zusammenfassung aus der Ministeriumspressestelle – um dann selbst zu entscheiden, welche Ergebnisse am interessantesten sind.

Nachrichten-Arbeitsplatz-schmal
Am Nachrichtenplatz: Immer viel zu tun. Immer viel zu beachten. Wenig Zeit zum Bewerten.
5. Jede Redaktion muss systematisch vielfältige Quellen erschließen.

Um eine Vielfalt von Nachrichten aufspüren zu können, brauchen wir eine Vielfalt von Quellen. Die Realität sieht aber leider oft anders aus. Glücklich kann sich schätzen, wer immerhin noch mehrere Agenturen bezieht. Twitter und Facebook können den Horizont erweitern – aber nur bis zum Rand der eigenen Filterbubble.

Unerlässlich, wenn auch zeitaufwändig, ist das Pflegen einer eigenen, passgenauen Auswahl von (Online-)Quellen innerhalb der Redaktion. Wir alle wissen, dass Afrika in unserer Berichterstattung generell zu kurz kommt. Aber tun wir etwas dagegen? Wir wissen auch, dass unsere EU-Berichterstattung zu oft durch die deutsche (Regierungs-)Sicht geprägt ist. Aber wir ziehen noch zu selten die Lehre daraus, konsequent vielfältigere Quellen zu nutzen.

6. Wir haben zu selten einen langen Atem.

Immer wieder passiert es, dass uns Themen aus dem Blick geraten, die wir vor Monaten oder Wochen noch als sehr wichtig verkauft haben. Was ist eigentlich gerade in der Ostukraine los? Wie kommt Griechenland mit dem jüngsten Kreditprogramm zurecht? Und haben wir in Mali eigentlich noch Soldaten stationiert?

Der Kollege Wolfgang Michal hat dafür kürzlich den Begriff “Los-Wochos-Journalismus” geprägt: So wie bei McDonalds manchmal Mexiko-Wochen sind, so sind bei uns Medien-Leuten manchmal Syrien- oder Mali-Wochen. Und dann sind sie urplötzlich wieder vorbei. Wir müssen uns fragen, woran das liegt. Und sollten uns erinnern, dass wir die Agenda des Tages nicht nur abarbeiten, sondern dass wir sie auch setzen – ob wir wollen oder nicht.

PS: Diskussion erwünscht. Hier in den Kommentaren oder unter #newsneu auf Twitter.

4 Antworten auf „Radionachrichten:
Zu wenig Mut. Zu viele Handtücher.“

  1. Gute Gedanken. Insbesondere Punkt 3 finde ich gerade beim Deutschlandfunk so störend, daß ich die Nachrichten des Senders schon seit langem nicht mehr ertrage. Ein bekannter Politiker macht den Mund auf? Der Deutschlandfunk sendet es!

    Und Punkt 4 fällt in Politiker-Interviews des DLFs ebenfalls immer wieder sehr unangenehm auf. Seit einigen Jahren versuchen die DLF-Journalisten, trotz erkennbar mangelnder Recherche zumindest formal kritisch zu wirken, was den befragten Politikern dann sehr oft die Gelegenheit gibt, einfach zu punkten.

    1. Danke für den Kommentar. Ich kann nur sagen: Wir arbeiten dran. Dieser Text soll dazu beitragen, überkommene Routinen zu verdeutlichen – um etwas daran ändern zu können.

  2. Es ist ein zweischneidiges Schwert, wenn man weniger Politikernachrichten bringt. Eine Demokratie lebt davon, dass Politiker unter den Augen der Wähler ihre Entscheidungen treffen. Wird darüber nicht mehr so häufig berichtet entsteht der Eindruck, dass Politiker etwas beschliessen wollen, ohne die breite Öffentlichkeit darüber zu informieren. Es hilft nichts, man muss sich, als interessierter Bürger, selber bemühen, aus dem Nachrichtenschwall der diversen Medien das für einen Interessante herauszusuchen, auch wenn es Zeit und Kraft kostet.

  3. Liebe Frau Vock,
    ich habe Ihre Thesen mit Interesse gelesen und freue mich über diese sehr konkrete Bewusstmachung. Mir fallen dazu ganz viele verschiedene Sachen ein, u.a. weil ich täglich ca. ein bis zwei Stunden Radio höre (WDR 5 und WDR 3). Z.B. Wenn in den Nachrichten Merkel mit einem Zitat eingespielt wird, schalte ich immer auf CD, weil ich ihr seit Jahren inhaltsloses Gelaber nicht mehr ertrage (soviel zu Punkt 3, bei Steinmeier u.a. geht es mir ähnlich; inhaltlich wichtige Aussagen von Gysi werden dagegen so gut wie nie zitiert, d.h. es werden nicht nur soziale, sondern auch politische Gruppen ausgeblendet: was ist mit seinem Vorschlag, die türkisch-syrischen Grenzübergänge zu überwachen?).
    Ich frage mich seit einigen Jahren, was eigentlich wäre bzw. passieren würde, wenn z.B. der Tagesthemensprecher jeden Abend (!) sagen würde, dass heute wieder neun oder zehn Menschen auf Deutschlands Straßen ums Lebens gekommen sind (das entspräche ungefähr der jährlichen Opferzahl). Zu Punkt fünf fällt mir ein, dass die französischsprachige „Le Monde diplomatique“ immer relativ viel über Afrika berichtet. Ich weiß nicht, ob man da in irgendeiner Form Quellen z.B. zusammen nutzen könnte.
    Der WDR5 hat in seiner sehr guten Wissenschaftssendung „Leonardo“, die eben solche „vernachlässigten Themen“ hin und wieder auf die Agenda setzt, heute über den Wasserrückgang im Toten Meer berichtet. Das hat mich an den Aralsee erinnert, von dem ich lange nichts mehr gehört hatte, und Wikipedia schreibt, dass die ökologischen und gesundheitlichen Folgen inzwischen mit der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar seien.
    Gibt es eigentlich schon Konzepte, nicht jede Stunde die gleichen oder ähnlichen Nachrichten zu wiederholen, sondern sie in einem größeren Turnus zu wiederholen und dafür die Meldungen zu variieren: also z.B. die Arbeitsmarktdaten nur 13, 16 und 19 Uhr, dafür eine andere Meldung um 14, 17 und 20 Uhr etc?

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