Zukunftswerkstatt Radionachrichten II: „Bloß nicht wie immer“

Ein weiterer Versuch, Radionachrichten anders zu machen.
Oder: Wer braucht eigentlich Korrespondenten?

Sie haben Erfahrung. Sie haben Routine. Doch nichts davon ist gefragt. Im Gegenteil: 24 NachrichtenmacherInnen aus ganz Deutschland und der Schweiz sollen und dürfen ausprobieren, wie Nachrichten im Radio auch sein könnten. Anders. Moderner. Ungewöhnlicher. Denn: Nichts ist verboten an diesen drei Tagen in Baden-Baden. Die üblichen Nachrichtenregeln sind außer Kraft gesetzt.

Zukunftswerkstatt-Header Baden-Baden

Gastgeber Christoph Ebner vom SWR in Baden-Baden jedenfalls drückt allen Teilnehmern einen leeren Block in die Finger. Soll wohl heißen: „Jetzt mal ganz von vorne.“ Mit der ARD.ZDFmedienakademie und der Akademie für politische Bildung Tutzing hat er zum Experimentieren geladen, zur Fortsetzung der „Zukunftswerkstatt Radionachrichten“ in Magdeburg.

Und die Nachrichtenmacher nutzen die Gelegenheit:
Sie schaffen Korrespondenten ab, lachen in den Nachrichten und führen Selbstgespräche.

Die Laborbedingungen:

  • 24 Teilnehmer in 3 Gruppen.
  • Überwiegend öffentlich-rechtliche RadiomacherInnen, einige private.
  • Die Gruppen finden eigenständig und ohne Vorgaben zusammen.
  • Die Macher entscheiden selbst, für welche Zielgruppe sie senden und welche Neuerungen sie ausprobieren wollen.
  • Bis zur Sendung haben die Radiomacher 7 Stunden Zeit.
  • Es gilt die Nachrichtenlage vom 22.10.2015 spät abends.
  • Agentur- und O-Ton-Material des SWR sind verfügbar.
  • Erlaubt sind aber auch selbst geholte Umfragen und Töne. – Auch unter KollegInnen. Auch gestellte.
  • Alle Sendungen bekommen dieselben gestalterischen Soundelemente zur Verfügung gestellt (produziert von Michael Thaler, MDR)


Testsendung 1:

Die Idee dahinter

  • Die Nachrichten sollen Fragen beantworten.
  • Die Sendung soll vergessene Themen aufgreifen.
  • Die Sendung ordnet ein, ohne zu kommentieren.
  • Es soll erkennbar werden, warum welche Nachricht (nicht) in die Sendung kommt. Ziel ist Transparenz.
  • Nachrichten in einfacher, erzählerischer Sprache.
  • Setting „Schichtwechsel“: Nachrichtenredakteure machen eine Übergabe. Die Redakteure erzählen (sich) auch die Geschichten hinter den Nachrichten.
  • Zielgruppe: Petra und Thomas, 35  und 50 Jahre alt, auf dem Land, mittlerer Bildungsabschluss.

Wirkung und Reaktionen danach

Einstieg

„Dass da zwei Nachrichtenredakteure ihren Schichtwechsel besprechen wurde mir nicht gleich klar.“

„War kurzzeitig verwirrt.“

„Man müsste die Situation deutlicher machen. Vermutlich auch mit Jingle.“

Nachricht zu DFB/Niersbach/Zwanziger

Einer der Redakteure kommentiert den O-TON. Schwierig, wenn nicht klar wird, dass das keine klassische Nachrichtensendung ist.

Nachricht zu Flüchtlingen (Abschiebungen/neue Asylregeln/Facebook-Gerüchte)

Reportage vom Flughafen mit Atmo wirkt unmittelbar. „Ich hatte Gänsehaut.“

Abmod zum Einspieler führt gekonnt gesprächig zu weiteren Aspekten des Themas.

Gut erklärt: Warum es ein Facebook-Gerücht nicht in die Nachrichten geschafft hat. Die Arbeit der Nachrichtenredaktion wird nachvollziehbar.

Leider untergegangen: Wo ist der Flughafen, auf dem die Abschiebung spielt?

Nachricht zu Banküberfall mit USB-Stick

Sich-selbst-Fragen-stellen funktioniert erstaunlich gut. Könnte eine neue Form werden: Das Selbstgespräch.

Hörernah und gut getextet.

Nachricht zu Gezi-Park-Urteilen in der Türkei

Es geht unter, wo genau die Nachricht spielt.

Was fehlt: WARUM die Redaktion diese Nachricht mit Hintergrunderklärung ins Programm genommen hat.

Nachricht zum Fußball/Ausblick Hoffenheim-Hamburg

Schöner persönlicher Dreh. Redakteure als Fußballinteressierte. Menschlich.

Ausstieg

„Bunter Rausschmeißer“ wirkt erzwungen. „Ein Schlenker zu viel.“

Insgesamt

Zwei Nachrichtenleute im Talk klingt grundsätzlich gut.

Schön: Das Prozesshafte. Wie wurde was entschieden? Das Warum dürfte noch stärker betont werden.

Schöne Transparenz: „Haben gesprochen mit“, „Reporter war da“. Macht die Arbeit der Nachrichtenredaktion sichtbar.

Gefahr: Dialog „mit Rücken zum Publikum“. Selbstreferenziell. Interessiert es den Hörer, womit WIR uns beschäftigt haben?

Gefahr: Theatraler Charakter. Könnte als (über)inszeniertes Kasperletheater, als Fake verstanden werden. „Das könnte die gewünschte Transparenz konterkarieren.“ „Könnte aber auch ein gelerntes Kunstprodukt werden. Bei einer On-Fernsehreportage ist einem das auch bewusst, dass das wie live aussieht, aber nicht ist. Könnte man branden und als Marke aufbauen.“

Lösung? Es noch extremer machen. Wirklich da sitzen und gemeinsam die Nachrichten der vergangenen Schicht durchblättern. Spontaner Talk. Keine gestellte Übergabe. „Käme vermutlich von selbst, wenn das Team das eine Weile machen würde.“

Könnte man in Kurzfassung auch als Teaser auf die eigentlichen Nachrichten einsetzen.

„Wirkte auf mich wie eine Tageszusammenfassung. Ich stelle mir vor, ich fahre nach Hause und bei denen ist auch Schichtwechsel wie bei mir, der ich den ganzen Tag bei Daimler am Band gestanden habe.“


Testsendung 2:

Die Idee dahinter

  • Nachrichten sollen sich in das Programm eingliedern, kein Fremdkörper sein. Deshalb: Übergabe zwischen Moderator und Nachrichtenpräsentator
  • Nachrichten mit erzählendem Ton.
  • Mini-Beiträge, Talks, O-Töne wie im restlichen Programm auch.
  • Themenauswahl soll sich am Nutzen für den Hörer orientieren.
  • Außerdem gezielte gestalterische Experimente:
    • Übersicht mit O-Tönen testen. Vorbild u.a. BBC Radio One Newsbeat
    • Meldungen mit O-Tönen statt Leadsatz beginnen.

Wirkung und Reaktionen danach

Einstieg/Übergabe/Überblick

Gut: Moderator verknüpft Musikmod mit erstem Nachrichtenthema. Nachrichten sind kein Fremdkörper mehr. Aber möglicherweise verwirrend: Ab wann beginnen die Nachrichten?

Übersicht mit O-Tönen zu Beginn grundsätzlich schön. Sagt schon viel. Aber: (Zu?) Viele Stimmen im schnellen Wechsel.

Nachricht zu DFB/Niersbach/Zwanziger

Moderativer Einstieg mit Vorgeschichte funktioniert. Erzählerischer Zugang ohne Leadsatz gelungen.

Korrespondent ordnet ein, gewichtet, erklärt. Talk angenehm ungekünstelt in Alltagssprache.

Konkreter Verweis auf übersichtliche Darstellung im Netz macht Lust auf Online-Angebot.

Nachricht zu neuen Asylregeln

Einstieg mit O-TON nach Trenner macht neugierig.

O-TON von Innenminister Hermann war genau so schon in der Übersicht. Wirkt als reine Wiederholung irritierend.

Nachricht zu Hassposts auf Facebook

Rasanter Übergang. Trotz Trenner nicht eindeutig von der vorangegangenen Meldung abgehoben.

Kollegengespräch wirkt packend und nah am Hörer. Alltagstauglich.

Kollegin darf im Talk vielleicht sogar noch emotionaler wirken und die Zusammenhänge bewerten.

Nachricht zu Busunfall in Frankreich

Eine Frage bleibt unbeantwortet: Warum überlebt der Busfahrer? Ist er abgesprungen? DIESE Geschichte fehlt.

Nachricht zu Gezi-Park-Urteilen in der Türkei

Einstieg mit O-Ton hier verwirrend. „Ich hab mich als Hörer erschreckt.“ „Gehört das noch zum Busunfall? Wer schreit da jetzt rum?“

Erklärstück fällt etwas aus dem Rahmen. Auch sprachlich. War klassisch nachrichtlich. Wirkt wie ein Fremdkörper, weil deutlich langsamer als die restliche, doch sehr schnelle Sendung. „Bin ausgestiegen.“

Verschenkte Geschichte: Ärzte, die verurteilt wurden, weil sie beim Helfen eine Moschee verschmutzt haben. Hätte man stärker gewichten können.

Nachricht zum Fußball: Hoffenheim-Hamburg/Karlsruhe – Kaiserslautern

Lebendig, aber lang und überproduziert mit zu vielen Elementen. „Man weiß gar nicht mehr, wo es lang geht.“

Insgesamt

Schön viele O-Töne. Machen die Sendung lebendig und abwechslungsreich. Dennoch zu lang und dicht. „Mir war vieles zu schnell.“ „Hängen geblieben, sind nur die Experteneinblendungen. Der Rest ist an mir vorbeigezischt.“

Spannend: So viele verschiedene Elemente in einer Sendung. Insgesamt zu viel. Aber gute einzelne Anregungen.

Übergänge mit O-Tönen oft rasant. Lassen einen aber unkommentiert bisweilen in der Luft hängen. „Man versucht das als Hörer zuzuordnen und rätselt, was das zu bedeuten hat.“ Aber: „O-Ton-Einsatz wird natürlich auch gelernt. Wenn man das immer einsetzt, ist der O-Ton quasi der Trenner.“

Insgesamt zu viele Facebook und Internethinweise. Aber gut: Immer konkreter Hinweis, was genau einen im Netz zusätzlich erwartet.


Testsendung 3:

Die Idee dahinter

  • Starke, glaubwürdige Präsentatoren mit Persönlichkeit. Modell: Youtube.
  • Alle Kompetenz liegt bei den Präsentatoren. Deshalb: Nur O-Töne. Keine anderen Journalisten/Korrespondenten in der Sendung. Keine Einspieler.
  • Nachrichten, die einordnen, erklären, gewichten, Geschichten erzählen.
  • Einfache aber korrekte Sprache.
  • Mut zu „Randthemen“ und „vergessenen Themen“. Themen selber setzen. Themen rechtfertigen. Entscheidungen der Redaktion ansprechen, transparent machen.
  • Nachrichtensendung als Radio-Internet-Gesamtpaket. On air ist nur ein Teil. Enge Verschränkungen mit Ergänzungen, Zusatzinfos im Netz.
  • Nachrichtensendung mit visuellem Zusatzangebot.
  • Zielgruppe: Hörer mit Smartphone/Screen, die es gewohnt sind, etwas zu sehen. Informationshungrig. Mobil. Keine Altersbeschränkung. Deutschlandweit. Abendsendung 17 Uhr

Folgende Begleitung im Netz wäre denkbar, konnte im Workshop aber nur zum Teil praktisch umgesetzt werden):

  • Mittags schon Newsletter mit Blick auf die Abendsendung verschickt
  • Auf dem eigenen Twitter-Kanal: Hinweise auf die Themen, aber auch kuriose Einblicke hinter die Kulissen.
  • Tagsüber Aufrufe via Whatsapp und Facebook: „Plastiktüten kosten jetzt was. Tüte oder Jute-Beutel, wie sind Sie unterwegs?“
  • Sendung läuft auch als Live-Stream. Mit bildlichen Ergänzungen zu den Themen.
  • Zusatzangebote auf der Internetseite:
  • Karte der Gewalt in Nigeria. Aber auch Hintergund: Wie sieht das normale Leben in Nigeria aus? Fernab der Gewalt.

Wirkung und Reaktionen danach

Einstieg

Kurz und klassisch.

Nachricht zu DFB/Niersbach/Zwanziger

„Das Thema andeuten und dann sagen: ‚Wir machen’s doch nicht‘ ist komisch.“ Könnte ein Abschaltfaktor sein. Wirkt aber auch entschlossen. Motto: Alle reden drüber, wir finden: Es ist alles gesagt.

Eventuell platziert man das „Ist kein Thema“ besser zum Schluss.

Nachricht zur neuen Asylregelung

Klingel-O-Ton ist ein perfekter Hinhörer. Simple Inszenierung schafft, was sonst nur eine aufwändige Reportage schafft: „Bin sofort in der Situation. Protagonisten werden spürbar: Die Abgeschobenen. Macht die Konsequenz des Gesetzes erlebbar.“

O-Töne knapp und präzise. Gut ausgewählt. Zeigt beide Seiten.


Nachricht zur Aktion „Hass hilft“

„Diese Inszenierung ist zynisch. Finde das geschmacklos.“ „Diese Präsentation hat mich empört. Aber sie ist hängen geblieben. Das ist gut.“

Meldung bezieht Position. Hat Haltung. Wirkt über die Sendung hinaus.

„Ist genau die richtige Umsetzung: Die Aktion IST ja genau zynisch. Es geht ja darum, die Hassposter dumm dastehen zu lassen. Es ist genau klar geworden, was das ist. Ein klassischer Talk dazu wäre langweilig!

„Ich finde gut, dass es so weh tut. Ist nötig bei diesem Thema.“

Problem: Missverständnis möglich. Klingt zwischenzeitlich, als würden die Präsentatoren Hassposts belohnen.

Nachricht zu Nigeria/Boko Haram

„Selbstschelte und Hinweis auf den ‚Zynismus unseres Geschäfts‘ war mir zu heftig.“ Einfacher Hinweis reicht: ‚Lange nichts dazu gehört, wir machen das jetzt.’“

Nachricht zu Plastiktüten-Verbot

Packend moderativ-erzählender Einstieg ohne Leadsatz. Meeresrauchen zieht in die Geschichte hinein.

Wäre ein klassisches Thema für ein Erklärstück. Es fällt auf, dass das hier vermieden wurde. Mit Publikumsstimmen ganz gut aufgefangen. Aber: Das eigentliche Problem und die Einordnung kommen dadurch sehr spät.

Nachricht zu den besten Fußballer-Sprüchen

„Schön! Man darf auch mal lachen in den Nachrichten!“

Insgesamt

Unterhaltsame Sendung durch Doppelmoderation. Guter Wechsel zwischen informativen Teilen und unterhaltsamem Geplänkel. Gutes Spannungsfeld durch zwei vollkommen unterschiedliche Moderatorenstimmen, – typen. Beide authentisch.

Erstaunlich: Ist kein Gespräch. Wirkt aber so.

Themenzusammenstellung setzt gelungen auf informiertes Publikum, das in der Sendung eher Hintergründiges und Unerwartetes bekommt.

Gelungen minimalistisch. Reduziertes Gespräch. Ruhig. Ungehetzt. Hintergründig erklärend. Auch bei komplexen Themen.

„Hauptlerneffekt: Wie gut Geräusche wirken.“ Wirken vor allem, „weil in einer Sparsamkeit eingesetzt, die nicht überflutet. Es bleibt Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.“

Gefahr: Sendung könnte selbstreferenziell wirken durch das ‚Was WIR wichtig finden‘. Hörer könnten denken: ‚Mir doch egal, was DIE wichtig finden.‘ Könnte aber auch die Kompetenz der Präsentatoren betonen: ‚DIE wählen das für mich aus, weil sie Bescheid wissen.‘

Gefahr: Keine anderen Kollegen/Korrespondenten im Programm. Sind die Präsentatoren allwissende Götter, die keine anderen Götter neben sich dulden?

Gesamtkonzept mit Video und Texten im Netz faszinierend. Aber ist die Umsetzung realistisch? Vermutlich müsste man Prioritäten setzen bzw. testen. was funktioniert und angenommen wird.

IMG_1388 Zukunftswerkstatt schmalUnd jetzt? Mitreden. Und selber ausprobieren. Nachrichten anders machen. Zum Beispiel im nächsten Workshop „Neue Nachrichtenformen“ im April 2016. Weitere Anregungen und Diskussionen außerdem jederzeit unter #newsneu auf Twitter. Und wer eigene Experimente hier im Blog vorstellen will, darf sich gerne bei mir melden.

Disclosure: Sandra Müller, die Betreiberin dieses Blogs, wird von der ARD.ZDF medienakademie dafür bezahlt, die Zukunftswerkstatt Radionachrichten publizistisch zu begleiten.

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